Gastbeitrag: Dr. Kerstin Ullrich – Neue Wertevorstellung und Konsumentenwünsche

In regelmäßigen Abständen möchten wir Ihnen in der Reihe Gastbeitrag die neuesten Trends und Entwicklungen zu den  Fachthemen der verschiedenen Referenten vorstellen.  Zum Auftakt hierzu habe ich Frau Dr. Kerstin Ullrich, Unit Director der GIM Gesellschaft für innovative Marktforschung mbH in Heidelberg,  zum Thema des gesellschaftlichen Wertewandels und  der veränderten Konsumentenwünsche um ein Statement gebeten.

Dr. Kerstin Ullrich, Unit Director, GIM Gesellschaft für innovative Marktforschung mbh

In ihrem Buch Vision 2017 – was Menschen morgen bewegt, dass sie gemeinsam mit Herrn Dr. Christian Wenger verfasst hat, schildert sie ein facettenreiches Szenario der künftigen Entwicklung im nächsten Jahrzehnt. Darauf bezieht sich Frau Dr. Ullrich in ihrem Gastbeitrag:

“Nun, der Wandel wird auf verschiedenen Ebenen stattfinden und sich besonders nachhaltig auswirken. Die Thesen für das Leben in den nächsten zehn Jahren sehe ich folgendermaßen:

1. Wertewandel: Auf dem Weg in eine reifere Gesellschaft
Nach Jahrzehnten hedonistisch-individualistischer Extreme steht die nächste Dekade unter dem Vorzeichen des Ausgleichs. Weniger Ich  – mehr Wir sowie Kreativität und Kooperation als Gegenpol zum gesellschaftlichen Effizienzdiktat bilden zentrale Leitwerte der Zukunft.

2. Struktureller Wandel: Die Mitte unter Druck
Die in den letzten Jahren begonnene Polarisierung unserer Gesellschaft setzt sich weiter fort. Der Fahrstuhl des sozialen Aufstiegs stockt. Die Mitte steht weiterhin unter Druck. Neben der Fokussierung auf Bildung und Leistung als Mittel der Absicherung dominieren Sicherheit, Orientierung und soziale Verlässlichkeit den Wertehorizont der gesellschaftlichen Mitte.

3. Vom Gesundheitssystem zum Gesundheitsmarkt
Patienten werden mehr und mehr zu Kunden, Ärzte zu Unternehmern. Der Patient wird zum selbstbewussten Kunden, der sich aktiv mit dem Thema Gesundheit beschäftigt, sich umfassend informiert und Gesundheitsshopping betreibt. Auf der anderen Seite werden die Handlungsspielräume der Ärzte schrumpfen. Der Arzt entwickelt sich zum „kundenorientierten“ Berater, Dienstleister und Servicepartner. Seine Arbeit wird zu komplex um vom ihm alleine bewältigt werden zu können. Er schließt sich daher mit anderen Ärzten in Netzwerken zusammen und überträgt sein erweitertes Aufgabenspektrum als Gesundheitsberater in Teilen auf einen neuen Mitarbeitertypus in der Praxis.

4. Bildung als Schlüsselressource und Zukunftsinvestition
Der humanistische Bildungsbegriff weicht einem pragmatisch-nutzenorientierten Bildungsverständnis. Bildung wird zu einer in der Eigenverantwortung liegenden Investition in die Zukunft.  Der Trend zur Höherqualifikation und lebenslanger Weiterbildung öffnet die Bildungsschere. Bildungsverlierer finden sich vor allem unter den sozial Schwachen und männlichen Jugendlichen.

5. Abschied von der Industriegesellschaft

In der Wissensgesellschaft kann das entscheidende Humankapital nicht mehr in den Besitz des Unternehmens übergehen, sondern nur zeitweise „gepachtet“ werden. Flexible Arbeitsformen, vernetzte Projektarbeit und ein Zuwachs an kreativer Arbeit mit neuen Wertschöpfungsnetzen (z.B. Open Innovation, Co-Creation, Crowd Sourcing) kennzeichnen zukünftige Arbeitsprozesse. In der zukünftigen Arbeitswelt wird – zumindest im Bereich qualifizierter Arbeit – der Mitarbeiter selbst zum Firmenkapital, zusammen mit seinem Wissen, seiner Methodenkompetenz und nicht zuletzt den sozialen Netzwerken, auf die er zurückgreifen kann.
Das Prinzip mehr Lohn gegen mehr Leistung reicht in der Wissensgesellschaft nicht mehr aus. Der „Jobholder-Value” wird sich zu einem entscheidenden Wert im Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter entwickeln, der oft noch vor den Kunden und den Shareholdern steht. Erfolgreiche Unternehmen streben unternehmerisches Denken auf allen Ebenen an, und behandeln ihre Mitarbeiter als mündige Mitunternehmer: Mitwissen, Mitentscheiden, Mitgestalten, Mitverantworten schaffen mehr Vertrauen und Bindung als ständige Kontrolle.

6. Von der gewollten zur bewussten Mobilität
Als Reaktion auf wachsende Mobilitätsanforderungen der globalisierten Welt wird Mobilität zunehmend als Stressfaktor in einem dicht gedrängten Alltag empfunden. Als treibendes Bedürfnis entwickelt sich daher die Suche nach Kontinuität und sozialen Beziehungen: Ankommen wird wichtiger als Unterwegssein. Die Menschen wünschen sich mehr „bewusste“ Mobilität. Sie suchen Mobilität dann, wann sie es wollen und dort, wo sie es gut finden. Mit dem Ziel, mehr Zeit und damit mehr Lebensqualität zu gewinnen. Die Industrie bedient dieses neue Bedürfnis mit neuen Fahrzeugkonzepten und entwickelt sich zum Mobilitätsdienstleister.

7. Konsum: Beteiligung, Dienstleistung und Nachhaltigkeit
Da vor allem bei modernen Informations- und Kommunikations-Produkten sowie bei Lifestyleprodukten die Nutzung wichtiger ist als der bloße Besitz, wünschen sich die Menschen mehr Dienstleistungen rund um ein Produkt. Immer mehr Anbieter werden dem Prinzip folgen, die Wertschöpfung von der „Hardware“, dem eigentlichen Produkt, hin zur „Software“ zu verlagern, d.h. der Bereitstellung von Dienstleistungen wie z.B. einer individuellen Adaption oder Serviceleistungen in der Handhabung.
Ebenso wie die Beteiligung der Verbraucher beim Konsum immer selbstverständlicher wird, wird sich die Integration von Konsumenten als sinnvolle Ergänzung in Innovationsprozessen etablieren.

Die Ausdifferenzierung in funktionalisierten Low-Interest-Konsum und emotionalisierten High-Interest-Konsum setzt sich weiter fort. Während im Low-Interest-Bereich Effizienz und Nutzen zukünftig noch stärker in den Vordergrund rücken werden, lebt der High-Interest-Bereich vor allem von seinem emotionalen Erlebnischarakter, der die Möglichkeit direkter Produkterlebnisse vor Ort sowie die Glaubwürdigkeit der eigenen Erfahrung eines erlebbar gemachten Produktnutzens bietet.

Wer es sich zukünftig leisten kann, übt sich lieber in Zurückhaltung anstatt zu protzen. Die feinen Unterschiede zeigen sich in Zukunft weniger im offensichtlichen materiellen Güterkonsum, sondern vielmehr in der Nutzung qualitativ hochwertiger Serviceleistungen. Während untere Schichten vermehrt auf Discountangebote angewiesen sind und sich auf zweiten Märkten tummeln werden, auf denen sie Waren und Dienstleistungen tauschen, definiert sich die gesellschaftliche Mitte über ihre kulturellen Kompetenzen und den Luxus alltagserleichternder Dienstleistungen.

Themen wie ökologische und soziale Korrektheit, gesunde Lebensführung und lebenslanges Lernen sind in erster Linie Verhaltens- und Konsummuster, die in einer bildungsbürgerlichen und ökonomisch gut gestellten Schicht en vogue sind. Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung und die damit verbundenen Werte stellen für die unter Druck geratene Mittelschicht eine willkommene Möglichkeit dar, sich als neu zu finden.

8. Medien
In der Medienlandschaft der Zukunft kommt dem Internet eine Schlüsselfunktion zu, denn die Mediennutzung der Zukunft ist vor allem digital. „Ein Netz, viele Services, überall Zugang“ heißt die Formel für die Zukunft. Dies entspricht dem Wunsch, das Internet überall und ohne technische Einschränkungen auf allen Gerätetypen nutzen zu können. Gegenüber der herkömmlichen linearen und eher gemeinschaftlichen Nutzung wird insbesondere eine aktivere Nutzung individualisierter On-demand-Angebote zunehmen. Bisherige Nutzungsmuster werden in Zukunft jedoch nicht abgelöst, sondern vielmehr durch eine zeitunabhängige, vernetzte und personalisierte Nutzung ergänzt.

Dem Bedeutungszuwachs sozialer Beziehungen im persönlichen Umfeld steht zunehmend eine große Peripherie unterschiedlicher Bekannten- und Freundeskreise gegenüber, die den Charakter funktionaler Netzwerke besitzen, von denen jedes einem bestimmten Zweck dient. Diese weitgehend unverbindlichen und  vorwiegend instrumentellen ›Kontakte‹ werden über eine Vielzahl fast ausschließlich virtueller Medien gemanagt. Marketingmaßnahmen müssen daher zukünftig sehr genau zwischen den unterschiedlichen Beziehungsebenen und den damit verbundenen Medien differenzieren. Neben den klassischen Massenmedien, die als Reichweitenmedien vor allem dazu dienen, ein Markenbild zu verbreiten, werden neuere Beziehungs- und Beteiligungsmedien immer wichtiger werden. Zum einen, weil sie Gemeinschaftserlebnisse fördern und somit für eine tiefere Integration der Produkte und Marken im Alltag sorgen. Zum anderen weil die Beziehungsökonomie in einer Netzwerkgesellschaft immer komplexer und interaktiver wird.”

Vielen Dank für das Interview!

Webcast / Vorträge
>> Webcast Trendstudie: Was Kunden morgen wollen
>> Tankstellen-Shopper, Handel und Wandel in Tankstellen, Handelsblatt-Jahrestagung 03/09
>> Konsumententrends der Zukunft,  Customer 2009, 03/09
>> Neue Trends im Kosmetik-Bereich, Euroforum 03/09
>> Was Menschen morgen bewegt, trendforum 11/08
>> Consumer Trends und zukünftige Positionierungschancen, Trendtage Convenience 11/08
>> Nehmen Sie die Konsumenten unter die Lupe, Management Circle, 10/08
>> Vision 2017 – Was Menschen morgen bewegt, Stores 2008, 10/08
>> Anticipating Tomorrow’s Societal Change, ESOMAR, Montreal, 09/08

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