Geborgenheit im Digitalen? Neue Studie zur Werteentwicklung

Wie steht es in Deutschland um unsere Werte in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung? Ist die digitale Zukunft ein Garant für Sicherheit und Geborgenheit? Diese und viele andere Fragen stellt eine neue Studie der GIM, der Gesellschaft für innovative Marktforschung.

Der gesellschaftliche und technische Wandel, für den Begriffe wie Globalisierung, Digitalisierung oder auch Liberalisierung stehen, stellt große Anforderungen an den Einzelnen und führt auf der einen Seite zu Zukunftsängsten, andererseits zu Hoffnungen auf mehr Teilhabe und wachsende Möglichkeiten, stärker selbst Verantwortung zu übernehmen. Ein Großteil der Deutschen steht zum Beispiel der zunehmenden Bestimmung des täglichen Lebens durch Algorithmen eher skeptisch gegenüber, was Unternehmen und Marken ein Stück weit unter Zugzwang setzt, die auf Digitalisierung setzen.

Deshalb ist es wichtig, den Zusammenhang von strukturellem Wandel und Wertewandel genauer zu untersuchen, was die Studie „Values & Visions 2030“ getan hat. Dabei identifizierten die Forscher in einem ersten Schritt mit 46 Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft fünf globale Megatrends, und ließen diese anschließend durch 1000 repräsentativ ausgewählte Bürger bewerten.

Die Megatrends unserer Zeit

Am stärksten greifen die Auswirkungen der Algorithmisierung ins Leben der Menschen ein, so die Studie. Digitale Hilfsmittel erlangen immer mehr Einfluss auf unser tägliches Leben und entscheiden Dinge in einer Weise, die den Betroffenen oft als intransparent und willkürlich erscheint. Daraus entstehen so wichtige Fragen wie die nach dem Einfluss von Computern auf unser Leben oder Fragen nach dem Verhältnis von Komfort und Sicherheit versus individuelle Freiheit.
Verwertung nennen die Forscher einen weiteren Megatrend, und meinen damit „die Tendenz und die sich multiplizierenden Möglichkeiten, das eigene Ich für persönliche Wertschöpfung nutzbar zu machen – in Form sozialer Anerkennung wie durch das Posten von Bildern ebenso wie als monetärer Gewinn, etwa durch Blogs als Werbeträger.“
Aus ursprünglich größeren, ziemlich homogenen Gemeinschaften werden, so ein weiterer als Fragmentierung bezeichneter Trend, zunehmend kleinere, flexiblere Gruppen, häufig nur noch virtuell existierend, was Kompetenz im Digitalen erfordert. Alle, die diese Kompetenz nicht aufbringen, fühlen sich zunehmend ausgeschlossen, schließlich sogar abgehängt. Hier entstehen dann rückwärts gewandte Stimmungen und Forderungen nach Rückkehr zu einer überschaubar gewesenen guten alten Zeit, verbunden mit der Ablehnung moderner Entwicklungen. Populisten finden in dieser Gruppe willige Zuhörer.
Als Reaktion vor allem auf die Globalisierung steht die Re-Lokalisierung als weiterer Trend, der eine Form der Rückbesinnung auf die lokale Umwelt umfasst und zwar wirtschaftlich – Produkte und Erzeuger aus der Region werden bevorzugt, aber auch politisch und persönlich, zum Beispiel durch Rekurs auf den Begriff der Heimat oder Heimatgefühle, die „durch die Dekonstruktion der Ortsgebundenheit im digitalen Zeitalter“ verlorengegangen scheinen.

Gestaltung nennen die Forscher ihren letzten Megatrend und beschreiben damit den Wunsch der Menschen, selbst auf das direkte gesellschaftliche Umfeld Einfluss zu nehmen. Das geschieht im Politischen zum Beispiel durch die starke Zunahme von Online-Petitionen, im persönlichen Bereich steht u.a. eine Entwicklung wie das Urban Gardening dafür.

 

Die Wertetrends unserer Zeit

Aus den fünf Megatrends haben die Forscher der GIM insgesamt 33 Thesen zu zukünftigen Fixpunkten menschlichen Handelns und Entscheidens abgeleitet und diese 1.000 bevölkerungsrepräsentativ ausgewählten Deutschen präsentiert. Aus deren Antworten „haben sich acht Wertetrends herauskristallisiert: Verantwortungsübernahme, Gerechtigkeit und Solidarität, Wettbewerb und Leistung, Geborgenheit im Digitalen, Reale Nähe, Tradition und Heimat, Wahlgemeinschaften sowie Sicherheit und Kontrolle.“

Während durch Digitalisierung und Algorithmisierung einerseits immer mehr Entlastung im Alltag, Individualisierung und Autonomie möglich werden, sind andererseits über 70 Prozent der Befragten bereit, mehr Verantwortung im Internet zu nehmen. „Einfachheit, verantwortungsvoller Genuss und mehr Mitbestimmung stehen für sie im Mittelpunkt.“

Wurde die Digitalisierung anfänglich vor allem als Garant für die Stärkung der Position des Einzelnen in der Gesellschaft angesehen, hat sich diese Sicht inzwischen sehr stark gewandelt und ein Individualismus, der zu einer Art gnadenloser Selbstvermarktung – „Je attraktiver das Profil, je besser die Bilanz, desto höher der Profit.“ – geworden ist, wird von 54 Prozent der befragten Bürger sehr kritisch gesehen. Für über 70 Prozent der Befragten ist dieser Trend zur Selbstoptimierung aber unumkehrbar und wird sich bis 2030 sogar noch verschärfen.

Der Verlust von Kontrolle ist für viele ein wichtiges Thema, vor allem der Kontrolle über die eigenen Daten. Dennoch ist es erstaunlich, dass trotz aktueller Bedrohungsszenarien nur 24 Prozent der Befragten eine zunehmende Einschränkung der digitalen und persönlichen Freiheit durch mehr Überwachung im Internet zugunsten erhöhter Sicherheit befürworten. Kontrolle spielt dagegen eine große Rolle bei allen Fragen von Produktion und Konsumverhalten.

Der Verlust von Autonomie, Kontrolle, aber auch sozialer Nähe könnte jedenfalls „das entscheidende Thema in der künftigen Digitalisierungsdebatte“ sein, denn die Sehnsucht nach „Gemeinschaft und Selbstbestimmung“, nach Heimat und Familie sowie nach „Geborgenheit im Digitalen“ kennzeichnet sehr deutlich die „Wertelandkarte“ in der Studie.

Foto: GIM-Gesellschaft für Innovative Markstudie

Links:

Values & Visions 2030, GIM 2017, Management Summary
Kollektive Selbstbestimmung – Die größte Herausforderung der Digitalisierung, politik-digital.de 2017
Wertestudie „Values & Visions 2030“ Konsumenten wollen Transparenz, keine willkürlichen Algorithmen, Horizont 2017

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